Ich öffne meine Augen, aufgeweckt vom lauten Hupen und von den Schweißperlen, die mir die Stirn runterlaufen. Meine Beine sind eingeschlafen, der Kopf viel zu schwer, mein Hals trocken und das ständige Stop-and-Go versetzt mich in ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma. Als ich aus dem Fenster rechts schaue sehe ich Wellblechhütten, links blaue Planen, die das improvisierte Zuhause einer Familie bedecken – als Schutz vor Staub, Regen und der viel zu heißen Sonne. Ich bin in Mumbai. Und mit mir 12.5 Millionen weitere Menschen und ungezählte Touristen.
Mein Magen kribbelt, im Kopf blättere ich meine To-Do-Liste durch, die ich mir Zuhause so fein säuberlich angelegt habe. Mumbai, eine Stadt, die ich schon seit langem sehen und erleben, riechen und fühlen wollte. Auf das Riechen kann ich im Nachhinein verzichten, dennoch: ich wollte mich von der Stadt verzaubern lassen. Genau so, wie es Prabaker, Lindsay, Karla und die anderen Charaktere aus Gregory David Roberts‘ Buch Shantaram erlebt haben.
Ich würde gerne von mir behaupten, dass ich das Buch gefressen habe und es innerhalb von einer Woche ausgelesen habe. Dem ist leider nicht so. Es dauerte ein Jahr, bis ich mich durch die faszinierende Geschichte eines australischen Schwerverbrechers gekämpft habe, der nach einem Zwischenstopp in Neuseeland und einem Ausbruch aus dem Gefängnis in Mumbai niederlässt und sich als Slum-Doktor, Drogendealer, Passfälscher und verdammt menschlichem Helden beweist. Ich denke, dass genau dieses eine Jahr, das stets mit Shantaram gefüllt war, ein gewisses Bedürfnis in mit entwickelte Mumbai kennenzulernen. Und genau diesem Bedürfnis ging ich im letzten August nach.
„Die beklemmende Feuchtigkeit macht in Mumbai Amphibien aus uns, wir atmen Wasser in der Luft ein und entweder lernst du, damit klarzukommen oder du verlässt die Stadt“ – so Roberts in Shantaram. Und hier saß ich im Taxi zum Hotel, seit 3 Stunden und wurde eins mit meiner Hose, die sich dank der Hitze sanft an meine Haut schmiegt. Mumbai, ich mag dich jetzt schon.
Mumbai Guide – „There are no mistakes. Only new paths to explore.“
…und diese neuen Wege entdecke ich an meinem ersten Tag in Mumbai. Ich laufe durch die Gassen von Mumbai, fasziniert von der Architektur und den Kontrasten. Rechts erblicke ich ein tolles Kolonialgebäude nach dem anderen, davor stehen Studenten, die sich in ihrer Mittagspause einen Chai beim Chaimann gönnen. Auf den Straßen ist gerade die größte Rush-Hour des Tages im Gange und auf der anderen Seite erblicke ich Bibliotheken, Bettler und Barber. Mumbai, du Stadt der Kontraste. Übrigens besitzt Mumbai, nach Miami, die zweitgrößte Anzahl an Art Deco Gebäuden.
Mumbai erlebt ihr am besten zu Fuß bzw. mit dem Taxi, wenn ihr größere Distanzen zurücklegen wollte. Tuk Tuks gibt es in Mumbai nur im Norden, wenn ihr zum Beispiel in den hippen Vorort Bandra fahren wollt.
Mumbai Guide – „Whatever you do, in the privacy of your own rain shower, is your own business“
Business – etwas, das sich in Mumbai an jeder Ecke finden lässt. Der Chaimann, der am Girgaum Chowpatty, dem beliebtesten Strand Mumbais, fleißig Tee verkauft, der Barber, der mitten auf dem Markt den Bart trimmt oder die Kinder, die Plastik und Metall suchen, um dies zu recyclen.
Die Geschäftstüchtigkeit der Inder in Mumbai erhält ihren Höhepunkt in Dhobi Ghat, dem größten Waschsalon der Welt. Hier arbeiten ca. 5000 Männer an 826 Becken und waschen tagein, tagaus die Wäsche der Krankenhäuser, Fabriken, Hotels, aber auch der Einheimischen und der Touristen, die Ihre Wäsche in verschiedenen Waschsalons der Stadt abgeben. Die Männer, die häufig schon seit Ihrer frühen Kindheit in Dhobi Ghat arbeiten, leben zumeist direkt in der Wäscherei, stehen 4:30 Uhr auf und arbeiten konstant 14 Stunden an jedem Tag der Woche. Dass dabei Verätzungen, Verletzungen und geringer Lohn kein Geheimnis sind, das ist halt so. Ich werde den Blick über die Wäscheleinen, die waschenden Männer, die bis zu ihren Knien im Wasser stehen und Wäsche waschen nie vergessen.
Mumbai Guide – „Food is music to the body, music is food to the heart.“
Mit einem leicht flauen Gefühl, einem Gefühl der Beklemmung nach den Eindrücken aus Dhobi Ghat ging es für mich auf den Spuren von Shantaram nach Colaba ins Leopold Café – dem Schauplatz des gesamten Buchs. Leopold Café, der mystische Ort, in dem sich die Ganover der Stadt treffen und neue Deals aushandeln. Oder: Leopold Café, wo es den besten Smoothie der Stadt gibt.
Einen Ort, den man bisher nur aus Büchern kannte, tatsächlich zu sehen und zu erleben ist immer wieder ein beeindruckendes Gefühl. Die Vorstellungen, die sich Seite nach Seite aufbauen, werden nun auf ihre Wahrheit getestet. Das Leopold Café hat den Test bestanden: es ist dunkel, es riecht komisch, es ist voll – nur den Gauner, Dealer und Killer habe ich (zum Glück) nicht gesehen oder einfach nicht für voll genommen.
Mumbai Guide – „Happiness is a myth. It was invented to make us buy new things“
Ob dieses Zitat so wirklich stimmt, das weiß ich nicht, dennoch: ein bisschen shoppen schadet nie. Shoppen in Indien war für mich allerdings nicht der Fakt von Shop zu Shop zu springen, sondern ein Spaziergang über einen Markt, der mir von Sekunde zu Sekunde erneut den Atem genommen hat. Das lag zum Einen an den vielen Gerüchen und zum Anderen an der Tatsache, dass ich überall mir unbekannte Dinge entdeckte. Der Barber, der seinen Shop neben der Curryfrau eröffnete, Büromaterial wurde neben Shakes und Schuhen verkauft und generell gilt hier, bleibe nie stehen oder nur dann, wenn die Tausend Menschen vor dir auch stehen bleiben.
Am besten erlebt ihr das auf dem Chor Bazaar. Eigentlich hieß dieser Markt einmal „Shor Bazaar“, der laute Markt. Doch da die Briten dies nicht so wirklich aussprechen konnten wurde aus dem Shor Bazaar schnell der Chor Bazaar, was nun „Markt der Diebe heißt“.
Mumbai Guide – „Heroes only come in three kinds: dead, damaged or dubios“
Nachdem ich meine Mumbai To-Do-Liste ganz schnell verworfen habe und mir selbst vorgenommen habe die Stadt einfach zu erleben, blieb mir eins ganz besonders in Erinnerung. Etwas, das einen Aufenthalt in der Stadt der Kontraste, Mumbai, komplett macht: ein Besuch im Haus von Mahatma Ghandi. Ghandi ist der Held für viele Inder. Sein Kampf für Gleichberechtigung, gegen die Rassentrennung, für die Menschenrechte für Unberührbare und Frauen und vor allem sein Kampf für Indiens Unabhängigkeit haben Ihn zu einem echten Idol gemacht.
Läuft man in Mumbai durch das Haus, in dem dieser große Held lebte, dann ist Gänsehaut ein milder Ausdruck für das Gefühl, welches einem dort überkommt. In mehreren Regalen sind die Bücher, die Ghandi las, aufgereiht. In einer Ecke wurde sein Schlafzimmer rekonstruiert. Das Knarren der Dielen und die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Gitter an den Fenstern kommen machen das Gefühl perfekt und unbeschreiblich.
Nach nur zwei Tagen in Mumbai kann ich sagen, dass es mich gepackt hat. Es ist eine ganz besondere Stadt. Der Schweiß, der Lärm, die Menschen, der Dreck, die Obdachlosigkeit und Armut – das alles ist genauso Mumbai, wie auch die 5-Sterne Hotels, die Paläste, die Restaurants mit Securities und die oberen 10.000, die mit eigenem Chauffeur durch die Stadt gefahren werden.
Ich lasse meinen Abend auf der Mauer am Chowpatty ausklingen und überlege, wie es damals für Lindsay aus Shantaram war, hier zu sitzen und auf sein Leben zu blicken.
2 Kommentare
Hey Anne, toller Artikel, über den ich hier gerade stolpere. Ich war 2013 für zwei Monate in Mumbai und kann das „Riechen, Fühlen, Schmecken“ sehr gut nachempfinden. Trotz des ganzen Drecks, Lärms und der Armut liebe ich Mumbai! Schau gerne mal auf meinen Blog: https://ichreisealsobinich.wordpress.com/
Frohes Reisen!
Hi Janina! Vielen Dank für deinen Kommentar 🙂 Schönen Blog hast du da! Keep it up!